Status

Es gibt kaum ein Kind, das nicht vor dem Schuleintritt von der Welt der Buchstaben fasziniert ist und mit Freude und Neugierde die Welt auch schreibend und lesend erkunden will. Gesellschaftlich gesehen hat die Lesekompetenz einen hohen kulturellen Status, da die Fähigkeit, Geschriebenem Sinn zu entnehmen, eine Basis der gesellschaftlichen Teilhabe darstellt. Unter anderem ist die Sprachkompetenz eine unabdingbare Grundlage der Lesekompetenz, jedoch ist oft eine frühe Förderung der sprachlichen Kompetenz keine Selbstverständlichkeit und im familiären bzw. sozialen Umfeld des Kindes noch immer zu wenig bewusst.

Der Schule kommt in Zusammenwirkung mit dem sozialen und familiären Umfeld die Aufgabe zu, alle Kinder unter Berücksichtigung ihrer individuellen Potentiale auf dem Weg zu kompetenten Leserinnen und Lesern zu unterstützen. Dabei spielen Lesevorbilder, guter Leseunterricht, die Kenntnis über zugrundeliegende (mehrsprachige) Spracherwerbs- und Leseprozesse, über Entwicklungsmodelle, aktuelle Forschungsergebnisse und die daraus abzuleitenden Maßnahmen, sowie das familiäre und sonstige außerschulische (Lese-)Umfeld eine entscheidende Rolle. 

Handlungsbedarf bezüglich Lesekompetenz 

Die Situation der österreichischen Schülerinnen und Schüler bezüglich Lesekompetenz offenbarten schon die Ergebnisse von > PIRLS 2006 am Ende der 4. Schulstufe. Dabei gehörten 16 % zur Gruppe der Risikoleserinnen und -leser (Suchan, Wallner-Paschon, Schreiner 2009). Im Jahr 2011 waren es bereits 20 % (Suchan et al. 2012). Im Gegensatz dazu waren nur 5 % der Schülerinnen und Schüler in der Gruppe, die hohe Leistungen im Lesen zeigte. Damit nimmt Österreich unter den 14 vergleichbaren Ländern den letzten Platz ein. 

Eine weitere bedenkliche Entwicklung zeigt sich am Ende der Pflichtschulzeit bei den > PISA Ergebnissen 2009, deren Erhebung mit dem Schwerpunkt Lesen erfolgte. Über ein Viertel, nämlich 28 % der österreichischen Schülerinnen und Schüler, verlassen die Schule, obwohl sie zur Gruppe der Risikoleserinnen und -leser gehören. Risikoleserinnen und -leser sind auf Grund ihrer fehlenden Lesekompetenz in ihrer schulischen und später ebenso in ihrer beruflichen Laufbahn gefährdet. Dies kann in weiterer Folge ihre Chancen auf > Partizipation am sozialen, ökonomischen und kulturellen Leben verringern (Baumert 2011; Lonigan et al. 2012). 

Die Ergebnisse der PIRLS- und PISA-Studien zeigen auf, dass eine große Gruppe leistungsschwacher Leserinnen und Leser einer kleinen Gruppe leistungsstarker Leserinnen und Leser gegenübersteht. Das wurde auch in verschiedenen Längsschnittstudien (Klicpera & Gasteiger-Klicpera 1993 bzw. Klicpera & Schabmann 1993; Landerl & Wimmer 2008) belegt. Hierbei zeigte sich, dass dieser Leistungsunterschied in der Leseflüssigkeit bereits Ende der ersten Klasse bzw. Mitte der zweiten Klasse besteht. Unter normalen Unterrichtsbedingungen sind die Leseleistungen sehr stabil, so dass die Leseprobleme von leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern über die Grundschulzeit hinweg persistieren und die Wahrscheinlichkeit, den Entwicklungsrückstand im Lesen aufzuholen, für diese Kinder nur sehr gering ist (Klicpera & Gasteiger-Klicpera 1993; Landerl & Wimmer 2008).
 
Mögliche ursachen und Auswirkungen 

Wie diese Ergebnisse trotz der Bemühungen, die Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler zu steigern, zu erklären sind, darüber gibt es keine eindeutigen, wissenschaftlichen Erkenntnisse, aber Hinweise. Gründe werden unter anderem in der mangelnden diagnostischen Kompetenz der Pädagoginnen und Pädagogen vermutet. Mit diagnostischer Kompetenz wird die Fähigkeit beschrieben, die Schülerinnen und Schüler hinsichtlich ihres Kenntnisstandes, ihrer Verarbeitungs- und Verstehensprozesse und ihrer möglichen aktuellen Lernschwierigkeiten einschätzen zu können. Einen Weg, der es ermöglicht, Einschätzungen dieser Art vorzunehmen, bieten standardisierte Tests. Diese dienen bspw. zur Schaffung eines ersten Überblicks über die Lesekompetenz (z.B. SLS 1-4: Mayringer & Wimmer 2003) oder weiterführend der Erfassung der Teilfähigkeiten der Lesekompetenz (Dekodieren: z.B. Lesetest des SLRT 2: Moll & Landerl 2010; Leseverständnis: z.B. ELFE 1-6: Lenhard & Schneider 2006), die differenziert betrachtet werden müssen, um sich ein umfangreiches, detailliertes Bild zum Lernstand der Kinder zu machen und ebenso ihre Entwicklung begleiten zu können. Der Einsatz solcher Verfahren ist allerdings eher eine Seltenheit in den Schulklassen (Artelt & Gräsel 2009) und Lehrende sind nicht immer in der Lage, die Fähigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler adäquat einzuschätzen (Begeny et al. 2011; Schmidt & Schabmann 2010). Anfängliche Lese- und Rechtschreibprobleme werden oft fälschlicherweise als vorübergehende Auffälligkeiten bewertet (Schmidt & Schabmann 2010). Um optimale Lernbedingungen für alle Kinder in der Klasse zu ermöglichen, ist es aber notwendig, dass Lehrende die Leistungen der Schülerinnen und Schüler adäquat einschätzen können (Kameénui et al. 2006). 

Unter anderem auch durch die mangelnden Kompetenzen zur Lernstandserhebung, -feststellung und –begleitung werden Fördermaßnahmen die Lesekompetenz der Kinder betreffend oft im und außerhalb des Unterrichts relativ unstrukturiert umgesetzt und es mangelt zusätzlich an einer Evaluationskultur, die jedoch zur Qualitätssicherung von Maßnahmen und Interventionen unabdingbar ist. In einigen österreichischen Projekten hat jedoch die Evaluation einen hohen Stellenwert (z .B. Lese.Impulse: Schönbaß & Pitzer 2013; LARS: Seifert, Schwab, Gasteiger-Klicpera, in press; Forschungsprojekt: Individualisierung im Schriftspracherwerb. Qualitätsentwicklung im Erstlese- und Erstschreibunterricht auf der Grundstufe I. PH Stmk. Holzinger et al. 2014).
 
Die in den PIRLS- und PISA-Studien aufgezeigte signifikante Heterogenität von Leserinnen und Lesern gleichen Alters wird von Lehrerinnen und Lehrern bereits seit längerer Zeit als sehr herausfordernd wahrgenommen. Einerseits sollten sie Risikoleserinnen und -lesern individuell angepasste Hilfsmaßnahmen anbieten, um diese vor weiteren Bildungsbenachteiligungen zu bewahren (Gasteiger-Klicpera & Fischer 2008; Schmidt & Schabmann 2013). Andererseits sollten sie die Leseentwicklung der durchschnittlichen und überdurchschnittlichen Leserinnen und Leser in der Klasse ihrem jeweiligen Entwicklungsstand angemessen fördern. Um den Lernansprüchen aller Kinder gerecht zu werden, sollten Differenzierung und Individualisierung im Leseunterricht einen großen Stellenwert zugeschrieben bekommen (Feyerer 2012). Dies streben zwar viele Lehrerinnen und Lehrer an, aber sie schätzen die Rahmenbedingungen als ungünstig ein oder fühlen sich den damit verbundenen (fachlichen, didaktischen und/oder diagnostischen) Anforderungen nicht vollständig gewachsen (Kunze & Solzbacher 2008; Solzbacher et al. 2012). Daher wird der Differenzierung und Individualisierung im Unterricht noch nicht das Augenmerk geschenkt, welches sie eigentlich bekommen müssten (Altrichter et al. 2009). 

Die Heterogenität der Lesekompetenzen wirkt sich auch auf den Fachunterricht aus. Dennoch sind Bemühungen, Lehrerinnen und Lehrern aller Fächer während der Ausbildung die Grundlagen der Lesedidaktik und -methodik zu vermitteln, kaum wahrnehmbar (Studienseminar Koblenz 2009). Zudem erfordern die technischen, gesellschaftlichen und medialen Veränderungen neue Strategien und eröffnen neue Handlungsfelder, die alle Fächer und Lebensbereiche betreffen. 

Nicht nur die Schule ist gefordert

Wenn man über den Erwerb der Lesekompetenz spricht, wird meist eher auf Schule und Unterricht Bezug genommen, aber auch die Familie und die Umgebung, in der die Kinder aufwachsen, spielen eine maßgebliche Rolle (Alexander, Entwisle, Olsen 2001; Nickel 2011). > „Family Literacy“ wird immer öfter als ein Faktor, der die Schulleistungen allgemein (den Leseerwerb im Speziellen) beeinflusst, erwähnt. Die Lesekompetenz von Kindern ist nachgewiesenermaßen abhängig von elterlichen Einstellungen, Verhalten und dem soziokulturellen Kapital der Familie (Wallner-Paschon & Schneider 2009). Neben dem direkten Einfluss der Einstellung der Eltern zum Lesen ergibt sich auch noch ein indirekter Effekt, der sich über die verfügbaren Leseressourcen zu Hause auswirkt. Ungefähr ein Viertel der österreichischen Kinder wachsen in einer familiären Umgebung mit nur wenigen oder gar keinen Büchern auf (Wallner-Paschon & Schneider 2009). Trotz dieses bekannten Stellenwertes von Family Literacy für die Entwicklung der Lesekompetenzen gibt es bisher in Österreich relativ wenige wissenschaftlich evaluierte Maßnahmen und Programme aus diesem Bereich.
 
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