Themenfeld, Prämissen und Begrifflichkeiten

Leseförderung ist als Mittel zur Erweiterung sozialer Teilhabe und Vermeidung von Partikularisierung und gesellschaftlicher Destabilisierung zu verstehen und muss von Grund auf diversitätsbasiert und partizipationsorientiert konzipiert sein. Zielgruppen von Maßnahmen zur Leseförderung sind alle in Österreich lebenden Menschen ungeachtet ihres Alters, Geschlechts, ihrer Erstsprachen bzw. Familiensprachen, ihres Geburts- und Wohnortes, ihres rechtlichen Status bzw. Aufenthaltsstatus, ihres gesundheitlichen Zustands, ihrer kognitiven Entwicklung, ihres Erwerbsstatus, ihrer ökonomischen Ressourcen etc. 

Die AG > Diversität und > Partizipation beschäftigt sich mit Formen der Leseförderung, die zur Förderung des Grundsatzes „Lesen für alle“ und zum Ausgleich von sozialen Ungleichheiten im Erwerb von Lesekompetenzen, der Zugänglichkeit von Leseangeboten, der Teilnahme an Bildungsangeboten und der Teilhabe an der Gesellschaft beitragen. 

Partizipation ist nicht als Bringschuld Einzelner, sondern als Recht von Individuen und als Pflicht politischer Verantwortungstragender zu verstehen. Partizipation bezeichnet u.a. das Recht auf

Gesamtgesellschaftlich ist also Leseförderung als Teil von Maßnahmen zum Ausgleich von Nachteilen und sozialen Ungleichheiten, Vermeidung der Verfestigung von Armutslagen und zur Vorbeugung gesellschaftlicher Desintegration und Destabilisierung anzusehen.

Wir legen unseren Überlegungen einen erweiterten Lesebegriff (ursprünglich aus der Förderpädagogik vgl. Hublow 1985, Euker & Koch 2010) zugrunde, den wir über eine Definition von Kompetenzstufen hinaus ausdehnen wollen. Dieser erweiterte Lesebegriff bezieht sich nicht nur auf das, was in Verfahren für Leistungsvergleich und Diagnostik gemessen und verglichen werden kann, sondern bereits vor der Entwicklung alphabetischer Lesekompetenzen ansetzt. Ein solches erweitertes Verständnis von Lesen und Lesen-Lernen reicht weit über das auf Papier geschriebene Wort und Lesen in digitalen Medien hinaus und meint ebenso das Erfassen von alltäglichen Situationen und die Interpretation von Mimik, Gestik und den Gebrauch von Schrift(en) in Interaktion mit anderen Modi (z. B. Piktogramme, Symbole, Logi, Farbe, Bewegung etc.). Mit diesem Verständnis von Lesen eng verbunden sind auch ein erweiterter Textbegriff und der Gebrauch moderner Informations- und Kommunikationstechnologien. Gerade eine von Migration, Internationalisierung und Mehrsprachigkeit geprägte Gesellschaft erfordert das Hinterfragen herrschender, monolingualer Lesebegriffe und die Anerkennung der Tatsache, dass Lesen in unserer Gesellschaft in vielen verschiedenen Sprachen, Medien und Kontexten stattfinden kann und soll. 

Diversität bezieht sich auf die Wahrnehmung von Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten von Menschen zur Vermeidung von sozialen und strukturellen Ungleichheiten bzw. Ungleichbehandlungen, diese basieren auf gesellschaftlich konstruierten und reproduzierten Unterscheidungen wie z. B. Geschlecht, Herkunft/Ethnizität/Nationalität, Religion, Bildungsstand etc. Diversity Management im Bildungsbereich muss Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten von Menschen zum Ausgangspunkt von Bildungsarbeit und damit einer ganzheitlich-systemischen Leseförderung nehmen. Verschiedene Dimensionen von Diversität beziehen sich hier nicht nur auf Unterschiede in Lesekompetenzen, sondern auf die Wahrnehmung, Wertschätzung und Berücksichtigung von 

Diskurse zu den Themenkomplexen Lesen, Bildung und gesellschaftliche Diversität beruhen in hohem Maße auf der Konstruktion und Reproduktion sozialer, sprachlicher und ethnischer Differenzen und Defizite, die zur Beschreibung von „Risikogruppen“ und zur Erklärung von „unzureichenden Lesefertigkeiten“ herangezogen werden. Differenz- und defizitorientierte Benennungen bzw. Kategorisierungen, wie „niedriger sozioökonomischer Status“, „mangelnde Deutschkenntnisse“, „andere Herkunftssprache“, „geringe elterliche Förderung“, „funktionaler Analphabetismus“, „Computerverweigerer“ u.ä. konstruieren, reproduzieren und verstärken Stigmatisierung noch. 

Einer solchen defizitorientierten Sicht muss ein diversitätsbasierter Förderbegriff entgegengesetzt werden, der Diversität und individuelle Unterschiede und persönliche Ressourcen als Ansatzpunkt und Grundlage der Realisierung des Ziels „Lesen für alle“ aufgreift. 

In einem ersten Schritt sollen im Folgenden partizipationsfördernde bzw. -hemmende Faktoren identifiziert werden (Abschnitt Status), um dann jene entscheidenden Faktoren und Maßnahmen der Leseförderung zu benennen, die zur Realisierung der Ziele des ÖRLP im Sinne einer Verbesserung für alle in Österreich lebenden Menschen beitragen. 
 

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